Es roch nach Wald, zum ersten Mal in diesem Jahr. Der Winter hatte vor zwei Wochen seinen Abschied verkündet, als sich erste Tropfen von den Eiszapfen lösten und mit leisem, kaum hörbaren Platschen im Schnee versanken. Mit jedem Tautropfen wurde dieses Geräusch lauter. Inzwischen hatte sich der Boden rund um das Haus vollkommen vom Schnee befreit und in ein Feld aus dunklem Matsch verwandelt, in dem man knöcheltief einsank, sobald man aus der Tür trat. Heute roch es zum ersten Mal nach Waldboden, altem Laub und Tau, als die hellen Streifen der Dämmerung über dem Nebel erschienen. Der zu Eis erstarrte Wald taute auf und kämpfte sich langsam, Stück für Stück, ins Leben zurück. Fast den ganzen Winter lag der Schattenwald unter einer weißen, erdrückenden Decke aus dichtem Nebel. Man konnte nur die schemenhaften Umrisse der nächstgelegenen Bäume erkennen. Nur die Baumspitzen der alten Nadelbäume waren groß genug, sodass sie über die Nebeldecke hinausragten, wenn man hoch genug auf einen Hügel oder Baum kletterte. Der Nebel hielt einen im Winter wie gefangen. Obwohl die riesigen Wälder, Hügel und sanften Wiesen noch da waren, fühlte es sich an, als wäre jegliche Weite verschwunden. Es war, als wäre man in Watte gepackt, unfähig, sich zu bewegen oder um sich zu blicken. Die unglaubliche Größe des Schattenwaldes, die Linus im Sommer so sehr liebte, schien zusammengeschrumpft und auf ein paar hundert Meter um das Haus herum begrenzt zu sein.
Der
Geruch, der ihm nun zum ersten Mal seit Monaten in die Nase kroch,
weckte die leise Hoffnung auf den kommenden Frühling in ihm. Sein
Herz, das sich gestern noch schwer und eng umklammert angefühlt
hatte, klopfte nun frei und leicht in seiner Brust. Es war sehr früh
am Morgen. Das erste Licht verabschiedete die Nacht mit seiner
Dämmerung. Noch immer war es bitterkalt – erst als die Sonne sich
über den Waldrand erhoben hatte, wärmten ihre Strahlen die
erstarrte Natur. Nach einer unruhigen kalten Nacht war Linus vor
allen anderen aufgestanden. Die Nervosität, ja Angst, die er in den
Tagen zuvor gespürt hatte, war verflogen. Eine seltsame, unerwartete
Ruhe kehrte in ihm ein, die ihn alles klar und deutlich sehen ließ,
fast so, als betrachtete er sein Leben von außerhalb. Es war der
Morgen nach dem ersten Doppelvollmond des Jahres. Kurz vor Beginn des
Frühlings zeigten sich der Fahle Mond und der Blaue Mond1 rund und groß wie die Augen eines Raubtiers am Himmel. Dies war der
Morgen, an dem traditionell die Jäger im Kemutikon-Gebirge jenseits
der Eiswüste mit der Jagd begannen. In diesem Jahr, kurz nach seinem
dreizehnten Tag des Lebens, sollte er zum ersten Mal mit dabei sein
und beweisen, dass er zum Mann geworden war. Ihm war diese Tradition
fremd, ebenso wie ihre Art zu Jagen. Jedoch sein Herr Vater Andrej
bestand darauf, diese Tradition auch mit ihm fortzuführen. Andrej
war nicht sein richtiger Vater, er war mit seinen Brüdern vor fünf
Jahren zu ihm und seiner Mutter gezogen. Sein richtiger Vater Åke2 war gestorben, als Linus noch ein kleiner Junge war, der den ganzen
Tag durch den Wald streifte, am Bach Dämme baute und mit den Füchsen
verstecken spielte. Er war das einzige Kind von Åke und seiner Frau
Mutter Ulrika, sodass es seine Aufgabe wurde, nach Vaters Tod das
Holz zu sammeln, das Kartoffelfeld umzugraben, hoch in die Obst- und
Nussbäume zu klettern und die Früchte zu ernten. Gelegentlich
konnte er Hasen, ein paar Tauben und vielleicht ein Reh mit dem Bogen
erlegen. Damals lebte nur noch der alte Anders bei ihnen. Knechte
oder Mägde hatte es im Schattenwald schon seit Generationen nicht
mehr gegeben; die nächsten Nachbarn wohnten einen halben Tagesmarsch
entfernt. Nur selten machte Linus sich mit seiner Mutter auf den Weg
in das nächste Dorf, um Holz und einige Früchte aus dem Waldgarten
gegen die wenigen Sachen einzutauschen, die sie dringend zum Leben
benötigten. Anders war alt und still, aber vermutlich sehr klug. Er
war vor vielen Jahren, als Linus noch sehr jung war, zu ihnen
gekommen, und sein gütiger Vater Åke hatte ihn aufgenommen, obwohl
er auf Grund seines Alters nicht viel zur Arbeit im Haushalt
beitragen konnte. Seine Aufgabe bestand darin, die Ziegen zu füttern
und zu melken, den Stall sauber zu halten, Reisig zum Feueranmachen
zu sammeln und an den Nachmittagen Linus zu unterrichten. Er lehrte
ihn Lesen und Schreiben. Außerdem zeigte er ihm allerlei über
Kräuterkunde und alte Heilkunst bei ihren gemeinsamen Spaziergängen
durch die Wälder. Seit sein Vater gestorben war, hatte Anders ihm
auch das Bogenschießen beigebracht, damit sie wenigstens ab und zu
etwas Fleisch auf den Tisch bekamen. Inzwischen stellte Linus sich
gar nicht so schlecht mit dem Bogen an. Es bereitete ihm sogar
Freude, früh morgens allein in den Wald zu ziehen, die Tiere zu
beobachten, sich an sie anzuschleichen, um im richtigen Moment seinen
Bogen zu spannen und den Pfeil blitzschnell durch die Luft sausen zu
lassen.
1Der
Fahle Mond und der Blaue Mond sind beide als Vollmond nebeneinander
sichtbar.
2Åke,
alter Name aus dem Schattenwald, wird wie »ɔːke«, also mit O
statt A gesprochen.
Was
jedoch heute von ihm erwartet wurde, war etwas vollkommen Neues. Die
Männer aus dem Gebirge jagten, indem sie das Beutetier mit dem Pferd
hetzten und sich aus dem Sattel direkt auf das Tier fallen ließen,
um es dann im Zweikampf mit einem Messer zur Strecke zu bringen. Der
jüngere Bruder des Herrn Vater, Fjodor, hatte im letzten Jahr bei
seiner ersten Jagd auf diese Weise einen halb ausgewachsenen Bären
erlegt. Seitdem trägt er einen Umhang aus Bärenfell und eine Kette
mit den Nägeln der Bärenklauen. Bisher war ein Reh das größte
Tier, das Linus getötet hatte. Heute würde er nicht mit einer so
leichten Beute davonkommen. Es wurde erwartet, dass er Mut zeigt,
indem er sich einen Kampf mit einem würdigen Tier lieferte.
Nachdem
er früh aufgewacht war, schlich er sich leise aus seiner Kammer,
setzte sich auf die Bank vor dem Haus, betrachtete die Wälder und
schärfte sein Messer mit einem Wetzstein. Sein Leben könnte davon
abhängen, wie schnell das Messer bei seinem Angriff das wilde Tier
töten könnte. Er wollte kein Risiko eingehen und so gut vorbereitet
wie nur möglich auf sein Pferd steigen. Linus mochte den neuen Mann
seiner Frau Mutter nicht und ebenso wenig dessen Brüder. Sie waren
rau und grob, hatten einen schrecklich derben Humor, außerdem
tranken sie zu viel von dem Birkenwein1,
den seine Mutter im Frühjahr ansetzte. Ihre Pferde waren für sie
von größerem Wert als ein Junge, so ließen sie ihn und auch Fjodor
meistens in Ruhe. Fjodor war nur ein Jahr älter als er und ein
schüchterner Junge, der sich offensichtlich ebenso unbehaglich in
der Gesellschaft seiner Brüder fühlte wie Linus. Wäre Fjodor nicht
gewesen, der mit ihm trainiert hatte, sich im schnellen Ritt vom
Pferd abzustoßen, hätte er heute bestimmt keine Chance bei der
Jagd. Bis auf das gemeinsame Training hatte er aber auch mit Fjodor
wenig gemeinsam. Er würde ihn eher als einen Leidensgefährten denn
als einen Freund bezeichnen. Er selbst war ein Kind des Waldes,
Fjodor hingegen liebte sein Pferd mehr als das Land.
1Birkenwein:
Im Frühjahr kann der Saft der Birke durch Anritzen der Baumrinde
gezapft werden. Er ist zuckerhaltig und kann zu Sirup eingekocht
oder zu Wein vergoren werden.
Nun
vernahm er ein Rumoren aus der Scheune. Es würde nicht mehr lange
dauern, bis sein Herr Vater mit seinen Brüdern erschien und sie zur
Jagd aufbrechen müssten. Andrej selbst wohnte mit Ulrika und ihrem
gemeinsamen vierjährigen Sohn Marius in der großen Kammer im Haus.
Linus teilte sich dort die kleine Kammer mit Anders. Die Scheune
diente als Pferdestall für die Reitpferde, von denen sich die
Gebirgsmänner um nichts in der Welt getrennt hätten. Außerdem
hatten sich dort die Brüder den Heuboden zurechtgemacht, sie
schliefen lieber in der Nähe ihrer Pferde. Es war aber Linus‘
Mutter, die als Erste erschien. Sie trat leise aus dem Haus, ließ
sich neben ihm nieder und reichte ihm einen Becher mit warmer, in der
Kälte dampfender Ziegenmilch. Mit jedem Blick, den sie ihm schenkte,
schien eine Bitte um Verzeihung mitzuschwingen. Sie wusste, wie sehr
Linus ihren neuen Mann Andrej verachtete, aber gleichzeitig
fürchtete. Linus war sich ganz sicher: Es war keine Heirat aus Liebe
gewesen.
Im
Schattenwald lebten einst nicht viele Menschen, nur selten kamen
Wanderer vorbei. Seine Mutter, Anders und er waren nach dem Tod
seines Vaters auf sich gestellt gewesen. Sie lebten allein im Haus,
das seinem Vater und vor diesem seinem Großvater gehört hatte. Es
war ein recht großes Haus für die Gegend, gebaut auf einem
Steinsockel, doch Wände und Dach waren aus Holzstämmen gezimmert.
Es gab einen winzigen Schuppen, in dem sie ihre Werkzeuge
aufbewahrten, einen kleinen Ziegenstall und die Scheune. Früher
standen darin nur die alte Stute, die seine Mutter vor vielen Jahren
mit in den Schattenwald gebracht hatte, und das Maultier, auf dem
Anders hierhergeritten war.
Ein
Großteil der Arbeit und die große Last der Verantwortung lag auf
den Schultern von Linus‘ Mutter. Er selbst erfüllte die Aufgaben,
die ihm als Jungen übertragen werden konnten, allerdings war er
meist noch trotzig und enttäuscht darüber, dass seine Streifzüge
in den Wald ein jähes Ende gefunden hatten. Vor etwa fünf Jahren
änderte sich ihr hartes, aber durch und durch friedliches Leben, als
immer häufiger Jägergruppen aus dem Kemutikon-Gebirge nördlich der
Eiswüste in den Schattenwald kamen. Die Lebensbedingungen dort waren
wirklich hart. In den Höhen über der Eiswüste gab es wenig
Vegetation und kaum fruchtbaren Boden. Die Familien dort zogen wie
Nomaden von einem Ort zum anderen in der Hoffnung, bessere
Wildbestände zu finden oder von den kargen Pflanzen des
Gebirgsbodens Beeren und Kräuter ernten zu können. Die Winter der
letzten Jahre waren besonders hart gewesen, sodass die Menschen im
Gebirge jenseits der Eiswüste kaum noch in der Lage waren, ihre
Familien zu versorgen. Deshalb zogen mehr und mehr Jäger durch die
unerbittliche Eiswüste, um im Schattenwald ihr Glück zu versuchen.
Nur die härtesten und kräftigsten Männer und Frauen überlebten
den Weg durch das unendliche Eis. Diejenigen, die es bis in den
Schattenwald geschafft hatten, wollten sich ein neues Leben aufbauen.
Sie waren ebenso hart und unbarmherzig wie die Eiswüste selbst. Sie
nahmen sich, was sie fanden, vertrieben Familien von ihren Höfen,
indem sie das Land und Wild in der Region beanspruchten.
Linus‘
Mutter hatte Angst gehabt. Angst, ihr Haus zu verlieren, Angst, ohne
Wald und Garten nicht überleben zu können, Angst, von ihrem Sohn
getrennt zu werden, und sogar Angst, ihr Leben zu verlieren, wenn die
Nomaden zu ihr kämen. Mehr als einmal kamen Jägergruppen durch den
Wald, fanden jedoch das Haus nicht und zogen weiter. Dann, eines
Tages, Ulrika war gerade am Bach und wusch die Wäsche, wurde sie von
einem Reiter entdeckt. Sofort war sie von vier kräftigen Männern
auf ihren schweren, langhaarigen Pferden umzingelt. Die Männer
reisten allein, fünf Brüder, von denen der jüngste noch ein Knabe
war. Sie schienen keine Frauen zu haben, und es war Ulrikas Glück im
Unglück, dass sie zwar Witwe, aber noch jung genug für weitere
Kinder war. Andrej, der älteste Bruder, der offensichtlich das Sagen
hatte, mochte sie vom ersten Moment an. Sehr schnell offenbarte er
ihr sein Interesse an ihr. Auf seine raue, harte Art schien er sie
aufrichtig und ehrlich zu lieben. Keiner der Brüder, aber auch kein
anderer Mann würde wagen, sie anzurühren, das wusste Ulrika von dem
Moment an, als Andrej von ihr forderte, seine Frau zu werden. Er war
groß gewachsen, dunkel und kernig wie altes Holz, aber einige Jahre
jünger als sie. Für sie und Linus war es eine Möglichkeit, zu
einem Leben zurückzukehren, bei dem sie nicht jeden Tag nackte Angst
ums Überleben haben müssten. Es gab wohl kaum eine Alternative für
sie. Sie hatte zuvor davon gesprochen, zurück in die Dörfer des
Brugau-Landes zu gehen. Zurück an den Ort ihrer Kindheit. Vielleicht
hätte sie bei ihrer Tante Odette unterkommen können. Aber ihr
fehlte der Mut, nach so vielen Jahren in der Einsamkeit wieder unter
die Leute zu ziehen. Nun, da Andrej und seine Brüder da waren, gab
es nur noch die Entscheidung zu einem gemeinsamen Leben mit ihnen,
oder keinem Leben. Aber die Hoffnung, alles möge sich für sie und
ihren Sohn zum Guten wenden, hatte sich schnell als vergebens
herausgestellt. Sie litten zwar keinen Mangel und waren beschützt,
aber das Leben mit diesen Männern aus der Fremde war alles andere
als entspannt. Linus merkte, wie seine Mutter von Mond zu Mond1 müder und trauriger wurde. Früher, als sein Vater Åke noch gelebt
hatte, war sie fröhlich gewesen, hatte viel gelacht und Späße
gemacht. Das war nun lange her, ein Traum aus früher Kindheit.
1Von
Mond zu Mond bezeichnet die Zeitspanne von etwa einem Monat.
Nun, am Morgen seiner ersten großen Jagd waren die Augen seiner Mutter noch trauriger als gewöhnlich. An den roten Lidern konnte er erkennen, dass sie in der Nacht geweint hatte. Nun saß sie neben ihm, und er war froh, dass sie einfach schweigend den Morgen begrüßen konnten. Jedes Wort wäre zwischen ihnen heute zu viel gewesen. Er wusste auch so, was sie ihm sagen wollte. Dann ging das Tor der Scheune auf, Andrej und seine Brüder kamen mit den bereits gesattelten Pferden in den Hof. Linus‘ Mutter erhob sich eilig und ging schnell ins Haus, um auch den Männern Milch und Kastanienbrot zu richten. Andrej erblickte den Jungen vor dem Haus und schrie über den Hof: »Linus, hol dein Pferd, wenn du nicht zu Fuß auf die Jagd gehen willst. Wir warten nicht auf einen Langschläfer.« Linus stellte seinen Becher ab, dann ging er in die Scheune um das Pferd, das seine Frau Mutter ihm überlassen hatte, nun ebenfalls zu satteln. Wenige Augenblicke nach ihm betrat auch Anders die Scheune und machte sich an dem alten Maulesel zu schaffen. Linus sah ihn verwundert an, als der Alte das Tier gesattelt und mit Taschen bepackt neben seine Stute führte. Er saß noch in der Scheune auf, seinen Bogen und Köcher auf den Rücken geschnallt. Der Alte sah den fragenden Blick von Linus und entgegnete: »Mach den Mund wieder zu, Junge, du kennst mich schlecht, wenn du dachtest, ich lasse dich mit diesen Gebirgslöwen allein auf die Jagd ziehen.« Linus schenkte ihm ein Lächeln und trabte durch das Tor auf den Hof hinaus, wo sich inzwischen die Gebirgsmänner anschickten, ebenfalls die Pferde zu besteigen. Fünf kräftige, zottelige Pferde standen bereits im Hof. Andrej war mit einunddreißig Jahren der älteste der Brüder. Er war groß und kräftig, hatte dichtes schwarzes Haar und einen breiten Schnurrbart. Seine Augen waren dunkel, so dunkel, dass sie meist schwarz aussahen. Wenn er erbost oder gelangweilt war, zogen sich seine buschigen, dunklen Augenbrauen zusammen, und seine Augen sahen aus, als lägen sie tief in schattigen Höhlen in seinem Kopf. Seine Brüder Pjotre und Iwan sahen ihm sehr ähnlich, waren jedoch kleiner und schmaler als er. Sein Bruder Dimitri, der erst einundzwanzig war, hatte blaue Augen und sah verträumt aus. Wenn er mit den anderen sprach, erzählte er oft, dass er sich bald eine Frau suchen und in die Stadt ziehen würde. Die anderen lachten ihn aus, zerzausten ihm die glatten Haare, als könnten sie ihm dadurch die Flausen aus dem Kopf vertreiben, und knufften ihn in die Seite. Dimitri war schlanker und zarter gebaut als die anderen. Fjodor hatte Linus einmal erzählt, dass sie unterschiedliche Väter hatten, aber alle von der gleichen Mutter namens Dunja abstammten. Sie teilten sich alle den Namen Dragov. Ihre Familiengeschichte ließ sich über tausend Jahre zurückverfolgen bis zu einer Frau namens Donja Dragov, die auch als die Schreckliche Königin bekannt war. Fjodor sah seinen älteren Brüdern nicht sonderlich ähnlich. Er war ebenso kräftig gebaut und konnte Linus ohne Schwierigkeiten bei ihren Ringkämpfen, die sie im Sommer im Gras übten, zu Boden drücken. Seine Haut und seine Haare waren aber heller als die seiner Brüder und er schien ihre Hartherzigkeit nicht zu teilen. Er war der einzige, der gelegentlich ein Auge auf Marius hatte, ihn mit zu den Pferden nahm oder ihm die kleinen Kaninchen im Wald zeigte. Wenn seine Brüder jagen waren und mehrere Tage nicht nach Hause kamen, ging er Ulrika zur Hand, versorgte seinen kleinen Neffen und half bei der Hausarbeit. Heute war er ebenso wie Linus mit von der Partie, wenn auch die Prüfung, die Linus nun vor sich hatte, bereits hinter ihm lag. Er musste sich dieses Mal zurückhalten, bis Linus seine Aufgabe erfüllt hatte.
Wie
üblich ging es laut bei den Dragovs zu, als Linus sich zu ihnen
gesellte. Sie scherzten; Iwan versuchte, Pjotre aus dem Sattel zu
schubsen, hatte aber keinen Erfolg. Dafür bekam er es gleich
heimgezahlt, als dieser sein Pferd geschickt wendete und die
Lederriemen, die Iwans Satteltaschen hielten, mit einem Schnitt
seines Jagdmesser durchtrennte, sodass die Tasche zu Boden fiel.
»Wenn ihr mit dem Kinderkram bald fertig seid, können wir
vielleicht noch losreiten, bevor die Sonne hoch am Himmel steht«,
donnerte Andrej, gab seinem Pferd einen Tritt in die Flanken und
preschte als Erster vom Hof. Fjodor grinste Linus an, dann folgte er
ihm so schnell er konnte. Auch die anderen setzten sich in Bewegung,
wobei Iwan seine Taschen und damit auch sein Mittagessen zurücklassen
musste. Als Letzte verließen Anders und Linus den Hof, doch Anders
ermutigte ihn, zu den Reitern aufzuschließen, da er mit seinem
Maulesel das Tempo ohnehin nicht halten konnte. Linus schenkte ihm
einen Blick über die Schulter, mit dem er sich bei dem alten Mann
bedanken wollte. Dieser nickte kurz und kümmerte sich dann wieder
darum, sein Reittier in Trab zu versetzen. Linus preschte davon und
jagte den anderen Pferden hinterher. Sein Herz klopfte. Er fühlte
sich nicht sonderlich wohl auf dem Rücken eines Pferdes, obwohl
seine Stute lammfromm und sehr geschickt war. Die kalte Morgenluft
ließ seine vom Tau feuchten Haare zu Eis erstarren, die Kälte des
Waldes hüllte ihn ein. Bald hatte er die Reiter eingeholt, die auf
die Mitte des dichten Waldes zuritten. Inzwischen hatten sie
aufgehört, zu Scherzen und zu Grölen, stattdessen ritten sie leise
auf der Pirsch durch das dichte Unterholz. Die ersten Stunden des
Tages vergingen, doch bisher hatten sie kein Glück gehabt, denn sie
waren noch keiner lohnenswerten Beute begegnet. ›Warum sollten sie
so tief in den Wald gehen? Wäre es nicht sinnvoller, an den
Lichtungen und Feldrändern nach Wild Ausschau zu halten?‹, fragte
sich Linus. Andrej war es gewohnt, im Gebirge und den Rändern der
Eiswüste zu jagen. Im dichten Wald wären sicherlich andere
Jagdtechniken ratsam als im Gebirge.
Linus
grübelte noch über die Pläne und Taktik seines Herrn Vaters nach,
als dieser sein Pferd stoppte und den anderen ein Zeichen gab,
ebenfalls anzuhalten. Er hatte etwas entdeckt und winkte Linus zu
sich her. An der Körperhaltung der übrigen Begleiter erkannte
Linus, dass es eine mächtige Beute sein musste, der sie auf der Spur
waren. Vielleicht hatten sie einen Bären oder einen Wildbiber
gefunden, der so groß wie ein ausgewachsenes Schwein werden konnte
und den Arm eines Mannes mit einem Hieb durchbeißen konnte. Beides
keine leichte Beute, die dort auf ihn warten würde. Was er jedoch
sah, als er neben Andrej zum Stehen kam, ließ ihm das Blut in den
Adern gefrieren. Am Fuße des sanften Hügels, den sie soeben von
Osten her erklommen hatten, sah er zwei Drahtwölfe. Sie waren
deutlich kleiner als gewöhnliche Wölfe, hatten etwa die Größe
eines ausgewachsenen Schäferhundes und langes, flauschiges graues
Fell. ›In den Augen eines Fremden mussten sie niedlich und
ungefährlich aussehen‹, schoss es Linus durch den Kopf. Er hatte
aber viel von Anders über die Tiere des Waldes gelernt, sodass er
nun wusste, warum diese Tiere Drahtwölfe genannt wurden. Unter ihrem
buschigen, weichen Fell gab es eine sehr dichte Unterwolle, die so
fest und stabil wie ein Drahtgeflecht war, um das ganze Tier wie ein
Kettenhemd zu schützen. Kein gewöhnlicher Pfeil und kein Messer
konnte sie verletzten. Unter diesem kuscheligen Pelz verbarg sich ein
starker Wolf, jederzeit kampfbereit, mit Klauen und einem starkem
Gebiss. Gegen diese beiden Wildtiere hatte er keine Chance zu
überleben. Nicht, wenn er nur mit einem Messer bewaffnet war. Das
einzige Mittel, um den Drahtpanzer zu durchbrechen, war Feuer. Doch
weit und breit war kein Feuer entfacht, außerdem ahnte er, dass die
Dragov-Brüder von ihrer traditionellen Kampftechnik kein Stück
abweichen wollten. Irgendwie musste Linus einen Versuch unternehmen,
das nahende Unheil zu stoppen.
Es
waren zwei Wölfe, vermutlich ein Wolfspaar, denn Drahtwölfe waren
Einzelgänger und lebten nicht in Rudeln. Sollten sie Nachwuchs
erwarten, würden sie sich nicht damit begnügen, einen Angreifer
niederzuringen, sondern würden die gesamte Gruppe angreifen. Linus
fasste allen Mut zusammen. »Herr Vater Andrej«, flüsterte er dem
Mann auf dem Pferd zu seiner Rechten zu. »Das sind Drahtwölfe, man
kann sie nicht mit einem Messer besiegen …« Eine Handbewegung
seines Vaters und sein eisiger Blick ließen ihn verstummen. »Ich
hatte nicht erwartet, dass du bei der Jagd erfolgreich sein würdest,
Junge. Allerdings hatte ich dir mehr Mut zugetraut. Ich dachte, du
würdest es wenigstens versuchen. Ich habe mich wohl getäuscht, du
scheinst eher ein Mädchen als ein Mann zu sein.« Er warf Linus noch
einen finsteren Blick zu, dann ließ er sein Pferd den Hügel
hinuntertraben. ›Er weiß es nicht‹, dachte Linus bei sich. Er
kannte keine Drahtwölfe, ließ sich von ihrem harmlosen Aussehen
blenden. Ohne einen weiteren Gedanken zu fassen, ritt er hinter
Andrej den Hügel hinunter. Dieser hatte bald die Wölfe erreicht,
die ihn mit gefletschten Zähnen anknurrten, und um sein Pferd herum
Stellung bezogen. Er hielt sein Jagdmesser in der rechten Hand, ritt
auf den größeren der Wölfe zu, stieß sich dann aus dem Sattel ab,
wie es die traditionelle Jagdart im Gebirge jenseits der Eiswüste
war. Im ersten Moment war der Drahtwolf unter ihm, überrascht von
dem plötzlichen Angriff, doch als die Messerstöße keine Wirkung
zeigten, war es bald der Wolf, der die Oberhand gewann und Andrej
unter seinem schweren Körper gefangen hielt. Linus, der auf seinem
Pferd nah an das Kampfgeschehen herankam, konnte sehen, wie Andrej
versuchte, die scharfen Zähne des Drahtwolfs von sich fernzuhalten.
Er umklammerte den Hals des Tieres, versuchte so, ihn von sich
wegzudrücken. Bald floss rotes Blut seine Arme entlang. Der Wolf war
schnell und wendig, er hatte mehr als einmal zubeißen können.
Andrej brauchte seine ganze Kraft, um ihn von seinem Gesicht
fernzuhalten. Dann schaffte er es, sich über den Wolf zu wälzen,
und drückte ihn so gut es ging zu Boden. Der Drahtwolf ließ sich
das nicht lange gefallen und kroch rückwärts aus der Umklammerung
heraus, um im gleichem Moment, in dem er sich freigekämpft hatte,
erneut anzugreifen. Dieses Mal war Andrej so überrascht, dass seine
Deckung nachgab. Das scharfe Wolfsgebiss schlug sich in seine Kehle.
Das Wolfsweibchen hatte mit gefletschten Zähnen und ständigem
Knurren den Kampf verfolgt, sich aber selbst in einigem Abstand
gehalten.
Gerade
in dem Moment, als Linus diese Wölfin erreichte und sich vom Pferd
stürzen wollte, zischte ein Feuerblitz an seinem rechten Ohr vorbei.
Es musste ein brennender Pfeil sein, der von hinten auf den
kämpfenden Drahtwolf geschossen worden war und diesen im Nacken
traf. Ein zweiter, dann ein dritter folgten sofort und verletzten den
Drahtwolf an der Kehle sowie zwischen den Rippen. Ein weiterer
Feuerblitz zuckte durch den Schnee, landete aber zwischen den Füßen
des anderen Wolfes an Linus‘ Seite, ohne diesen zu verletzen. Der
kleinere Drahtwolf hob den Kopf, schaute in die Richtung, aus der das
Feuer kam, schaute zu Linus, der neben ihm im Schnee hockte, bereit,
einen hoffnungslosen Ringkampf auszufechten. Die Wölfin blickte ihm
direkt in die Augen, sodass Linus für einen Moment glaubte, sie
wollte ihm sagen, dass sie ihn nicht vergessen werde. Dann flog ein
weiterer Feuerblitz durch die Luft. Die Wölfin machte kehrt und
verschwand blitzschnell im Wald. Linus blickte auf die kleinen
glimmenden Feuer im Schnee. Es waren Pfeile, die in Brand gesetzt
worden waren. Linus blickte sich um. Die anderen Männer hatten sich
um den toten Wolf und den am Boden liegenden Andrej versammelt. In
der Richtung, aus der die Pfeile geflogen gekommen waren, stand ein
Mann mit gespanntem Bogen auf der Kuppe des Hügels. Es dauerte einen
Moment, bis Linus in diesem Mann seinen Mentor Anders erkannte. Er
hatte nicht erwartet, ihn so schnell bei der Gruppe zu sehen, die mit
einigem Vorsprung vor ihm geritten war. Vor allem war er verwundert
über seine kampfbereite Haltung. Er sah nicht mehr nach dem alten
Mann aus, der er in den letzten Jahren gewesen war.
Während
Linus noch nicht fassen konnte, was gerade passiert war, kam Anders
den Hügel hinuntergesprungen, verstaute den Bogen dabei wieder auf
seinem Rücken, sprang auf Linus‘ Pferd und reichte ihm eine Hand,
um ihn hinter sich in den Sattel zu ziehen. Mit einem misstrauischen
Blick auf die Dragov-Brüder, von denen nur Fjodor zu bemerken
schien, was sich um ihn herum abspielte, während alle anderen über
Andrej und den Wolf gebeugt waren, zischte er Linus an: »Mach schon,
steig auf, wir müssen schnell hier weg!« Linus schwang sich zu ihm
auf seine Stute. Er erhaschte in dem Moment, als Anders das Pferd
umlenkte und den Hügel hinauf antrieb, noch einen Blick von Fjodor,
der ihm direkt in die Augen sah und ihm langsam zunickte. Noch ganz
benommen von den Ereignissen und der raschen Wendung des Geschehens,
versuchte er zu begreifen, was vor sich gegangen war. Anders griff
nach den Zügeln des Maultiers, um es hinter sich herzuziehen. Er
fragte Linus über die Schulter hinweg, ob er verletzt sei, dann gab
er dem Pferd einen Tritt in die Flanken, als der Junge die Frage
verneinte. Durch den in der Mittagssonne glitzernden, vereisten Wald
führte die Stute sie zielsicher zurück nach Hause. Dem Maultier
blieb nichts anderes übrig, als irgendwie Schritt zu halten.
›
Was
ist gerade passiert?‹, versuchte Linus seine Gedanken zu ordnen.
Sein Herr Vater war sicherlich tot. Es hatte so viel Blut gegeben,
dass sich die Stelle um den Mann und den Wolf rot gefärbt hatte.
Einen Angriff von einem Drahtwolf, der seine Familie beschützen
wollte, überlebte man nicht. Er selbst hatte wohl sein Leben auch
nur den Feuerpfeilen zu verdanken. Wo war das Feuer hergekommen?
Gewiss, die Pfeile hatte Anders mit seinem Bogen abgeschossen, aber
wie hatte er sie so schnell zum Brennen gebracht? Wovor waren sie nun
auf der Flucht und was – um der Göttinnen Willen – war mit
Anders geschehen? Wer war dieser wendige, starke Mann, und wo war der
alte Greis geblieben, den er sein halbes Leben gekannt hatte? Diese
Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während sie durch den Wald
ritten. Doch der Gedanke, der ihm in den Sinn kam, als sie das Haus
in der Senke liegen sahen, ließ Linus einen eiskalten Schauer den
Rücken hinunterlaufen. Was würde nun mit ihnen geschehen? Sie
hatten Andrej und seine Brüder im Wald zurückgelassen. Der Mann
seiner Frau Mutter, der ihr in den letzten Jahren Schutz geboten
hatte, war voraussichtlich tot. Was würden die Dragov-Brüder tun?
Würden sie hier bleiben, bei Mutter und ihrem Neffen Marius? Würden
sie zurückkehren in das Kemutikon-Gebirge? Was sollte aus ihm
werden? War es richtig gewesen, einfach davonzureiten? Er dachte an
den Blick von Anders, als dieser ihn auf das Pferd hochgezogen hatte,
und an den Blick, den Fjodor ihm bei ihrem überstürzten Aufbruch
zugeworfen hatte. Irgendwie wusste er, dass sich alles ändern würde,
dass er tatsächlich zum Mann geworden war, auch wenn der Tag anders
verlaufen war, als sein Herr Vater es geplant hatte.